Charon, der gute alte Fährmeister, der die Seelen der Toten ins Jenseits übersetzt, hat sich zur Ruhe gesetzt und selbst den Weg durch das Ewigtor angetreten, aber in der jungen Stella hat er eine würdevolle, wenn auch unerfahrene Nachfolgerin gefunden. So ist es nun an Stella, die Seelen auf ihr Schiff zu laden und sie zum Tor zu bringen – aber wenn ich dachte, in Spiritfarer pendelt man zwischen dem Ewigtor (Everdoor) und den Inseln, auf denen die Geister herumstehen, hin und her, habe ich mich geirrt. Ehe ein Geist das Tor durchschreitet, hat er nämlich noch eine ganze Menge zu erledigen. Und es ist an mir, ihnen dabei zu helfen – und die eine oder andere Quest zu erledigen, ehe die Guten überhaupt erst an Bord gehen.
Statt also Seele um Seele zum Ewigtor zu karren, sammelt man in den ersten Stunden des Spiels überhaupt nur drei Passagiere ein, und das sind allesamt alte Freunde, Bekannte, Verwandte von Stella, ein unerwartet freudiges Wiedersehen in Anbetracht der Tatsache, dass man ja nicht einfach so aus Vergnügen auf dem Schiff ins Jenseits landet. Und statt sich einfach übersetzen zu lassen, richten die sich erst einmal häuslich ein auf Stellas Schiff, sind mit dem Gästequartier nicht mehr zufrieden und verlangen eigene Häuschen, Arbeitsstätten, Gärten an Bord, als hätten sie nicht vor, uns jemals wieder zu verlassen.
Unser Schiff ist kein einfacher Kahn, sondern ein wundersames Ding mit echt viel Tiefgang, denn egal wie hoch wir es mit Behausungen, Werkstätten und Agraranlagen bebauen, kommt es niemals auch nur ins Schwanken, geschweige denn ans Kentern, und das mit dem Tiefgang gilt auch für das ganze Spiel, das bunt und süß daherkommt und doch wirklich zu berühren weiß. Es ist kein Spiel über das Sterben, auch wenn der Klappentext das verspricht – an keiner Stelle wird auch nur erwähnt, dass die Passagiere tot sind – aber es ist ein Spiel über das Abschiednehmen, das Loslassen, das Aufräumen mit den Sorgen der Vergangenheit und das Bereitmachen für den nächsten Schritt.
Es ist keine hektische Aufbausimulation, sondern ein gemütliches Spiel, das man im eigenen Tempo spielen kann – aber es gibt immer etwas zu tun, etwas zu bauen, irgendwo hinzufahren, und hat man das erledigt, liegen die nächsten drei Dinge an, die man eben noch erledigen könnte, und während sich langsam die Geschichten der Passagiere – und Stellas – entfalten, kann das Spiel ungehindert Sog und Suchtwirkung auf den Spieler ausüben. Ohne Stress, aber hartnäckig – eine passende Stelle finden zum Speichern und Beenden ist da keine ganz einfach Übung.
So habe habe ich mich schon lange nicht mehr zwingen müssen, aus dem Spiel raus zu gehen und mich an die Rezension zu setzen – schließlich habe ich Spiritfarer noch nicht durchgespielt, und will ich nicht noch weiterspielen, bis ich mehr dazu sagen kann? Aber bis ich das Spiel wirklich durch habe, kann das noch was dauern. Vierzig bis sechzig Stunden muss man rechnen, je nachdem, wie man sich die Geschichte einteilt und seine Ziele aufeinander abstimmt. Und mit den rund zwanzig Stunden, die ich jetzt im Kasten habe, habe ich länger an Spiritfarer gespielt als an den allermeisten anderen Spielen, die ich in diesem Blog besprochen habe. Und dass es ein wirklich gutes Spiel ist, das kann ich auch jetzt schon sagen.
Dabei ist mir der Einstieg ins Spiel nicht einmal leicht gefallen. Direkt das erste, was man lernen muss, ist hüpfen. Und ich hatte wirklich nicht vor, einen Platformer zu spielen. Ganz sicher nicht. Ich bin so schlecht in Platformern wie nur was, und sie machen mir keinen sonderlichen Spaß. Hätte ich gewusst, wie viele Hüpf- und Springelemente in Spiritfarer enthalten sind, hätte ich es wahrscheinlich nie gespielt. Aber ja, das Spiel wird über Tastatur oder Kontroller gesteuert (Tastatur, in meinem Fall, weil ich linkshändig mit den auf rechtshändige Spieler ausgelegte Kontroller nicht zurechtkomme), und man muss ziemlich viel herumhüpfen. An Bord ist es einfach, da hatte ich den Dreh schnell raus – aber unterwegs hat es mich oft in die Knie gezwungen, dass man bestimmte Orte ohne Sprung- oder Doppelsprungtalent nicht erreichen kann. Einmal musste ich zwischen streikenden Fabrikarbeitern und ihrem Boss vermitteln, letzterer hatte sich ganz oben verschanzt, und den Weg über die Container musste ich dann viermal bewältigen – am Ende ging es sogar ganz gut, aber es hat deutlich weniger Spaß gemacht als wenn ich da einfach zu Fuß hätte hingehen können.
Dass man die hart verdienten Oboli, von denen jeder Passagier bei Fahrtantritt genau einen bezahlt – ich fühle mich unterbezahlt, in der Antike bekam Charon die noch paarweise – an speziellen Schreinen in noch mehr Hüpf-, Gleit- und Turnelemente eintauscht, macht es nicht besser. Immer wenn ich denke, jetzt habe ich endlich den Dreh raus, wird die nächste Sonderfertigkeit gefordert, und nicht alle sind einfach in der Anwendung. Viele Schatztruhen bleiben für mich unerreicht, diverse Steam-Achievements kann ich nicht erlangen, weil ich außerstande bin, entlegene Orte zu erreichen. Aber bis jetzt habe ich noch zumindest alle Questen erfüllen können, alle Passagiere einsammeln, und ich betrachte den Rest als optionalen Bonus.
Und ein bisschen verbuggt ist das Spiel manchmal. Gleich zu Anfang hätte ich es deswegen beinahe frustriert beendet: Ich hatte an der Werft die ersten Upgrades für mein Schiff erworben und wollte mit dem Kanu zurück zum Schiff fahren, aber das Kanu rührte sich nicht, ließ sich nicht aktivieren, und mit Albert, dem kalauernden Werftchef, konnte ich auch nicht mehr reden – ich dachte, ich mache etwas falsch, hätte nur nicht die passende Tastenkombination zum Paddeln, und beendete frustriert das Spiel. Nach dem Wiederreinladen konnte ich dann noch einmal die Updates erwerben, dann das Kanu besteigen und heimwärts paddeln, ohne Probleme – dafür setzte an anderer Stelle ein Event nicht ein, ich saß wieder fest, kam nicht vor und nicht zurück, und musste erneut raus- und wieder reingehen. Danach hat alles problemlos geklappt, aber in meiner ersten Stunde Spiritfarer war echt der Wurm drin.
Immerhin wollte ich zumindest eine Seele zum Ewigtor bringen, ehe ich mich an die Rezi setze – aber als es dann nach gut neun Stunden soweit war, war mir diese Figur wirklich sehr ans Herz gewachsen, und der Abschied, so tröstlich er auch war, ist mir schwer gefallen – es war ein schöner, ein versöhnlicher Moment, gefolgt von … einem Jumping-Puzzle. Das mich zur Verzweiflung getrieben, ich dachte, ich muss da jetzt ein paar echt schwierige Sprünge leisten, und bin daran gescheitert … Spoiler: Die Sprünge sind einfach. Wenn man die Schmetterlinge aktiviert und damit die Story voranbringt, kommen weitere Plattformen hinzu, und dann geht es auch ohne Probleme. Nur hatte ich da schon so viel Zeit mit sinnlosem Herumhüpfen verbracht, dass ich an der ansonsten sehr bewegenden Stelle, die danach folgt, zu sehr damit beschäftigt war, erleichtert zu sein, dass es mit dem Hüpfen erstmal ein Ende hatte. Wirklich, ich hätte mehr Spaß an einem Spiel, wo ich nicht wie ein Flummi durch die Gegend titschen muss. Aber Spiritfarer kann nichts dafür, dass ich nicht springen kann.
Aber wenn ein Spiel mit so vielen Platformer-Elementen mich so lange bei der Stange halten kann, muss es an anderer Stelle gehörig etwas richtig machen, und das tut Spiritfarer. Es ist ja nicht nur ein Platformer, es ist eine Aufbaustrategie, ein Crafting-Game mit diversen leichten und manchmal etwas schwierigeren, aber niemals unfairen Minigames, man kann seine Zeit mit Angeln verbringen, kann neue Kochrezepte ausprobieren, Schmieden und Schmelzen und Experiementieren, und um Gründe zu haben, immer neue Sachen zu basteln, wird man von seinen Passagieren gehörig mit kleinen und größeren Questen in Trab gehalten. Ein eigenes Haus an Bord zu haben reicht ihnen nicht mehr aus, sie fordern Deko und Ausstattung ein, wollen die Werkstätten benutzen, und das Schaf muss auch noch irgendwo untergebracht werden …
Es macht so viel Spaß, das Schiff immer weiter auszubauen – am Anfang denkt man noch, man hätte viel Platz, aber das täuscht, das zweite Schiff ist schnell gekauft und das dritte auch noch, danach muss man sparen, aber es geht immer noch größer. Angenehm ist, dass man ein neues Schiff nicht komplett neu ausrüsten muss – es wächst einfach das Vorhandene in die Länge, und die Obergrenze, wie hoch man bauen kann, wird angepasst, und dann kann man, wenn man mag, die verschiedenen Gebäude neu umgruppieren oder einfach nur die neuen anbauen, Platz ist ja erstmal wieder genug vorhanden.
Der andere begrenzende Faktor für den Ausbau sind die Materialien. Am Anfang ist nur ein kleiner Teil des Meeres für uns schiffbar, Eis, Felsen und Nebel verhindern die Weiterfahrt, und in den unerforschten Gebieten wachsen andere Bäume, werden andere Erze abgebaut, und um das Schiff in die Lage zu bringen, diese Hindernisse zu passieren, braucht man die rarste Währung überhaupt, Seelenblumen, von denen man immer nur eine bekommt, wenn man einen Passagier am Ewigtor verabschiedet – was nur dann geht, wenn dessen Behausung voll ausgebaut und all seine Questen aufgelöst sind. Es ist beinahe schade, dass man nur weiterkommt, wenn man seine Freunde verliert, aber auch darum geht es in diesem Spiel. Nur einmal habe ich einen meiner Fahrgäste leichten Herzens ziehen lassen, er war ein Schwätzer und Schwindler, der mir nicht ans Herz gewachsen war, aber um alle anderen habe ich doch das eine oder andere Tränchen verdrückt.
Die Dialoge, die ich unterwegs mit meinen Passagieren führe, sind eher Monologe. Stella selbst hat keinen Text – sie darf manchmal nicken oder den Kopf schütteln, und sie kann ihre Freunde umarmen, aber nicht zu oft, das wird denen sonst zu viel. Dass Stella nicht redet, finde ich schade – ich erfahre so viel über ihre Passagiere, so wenig über sie, und dabei würde ich sie gerne besser kennenlernen, erfahren, warum sie ausgerechnet Spiritfarer geworden ist und wie sie dafür ausgewählt wurde. Zweimal, nachdem ich Seelen ans Ziel gebracht habe, erfahre ich ein kleines bisschen über Stellas Hintergrund, nur durch stille Bilder vermittelt, und das macht neugierig auf mehr, aber ich habe jetzt schon erfahren, dass es nur noch ein drittes und letztes Mal geben wird, und davor fürchte ich mich mehr, als dass ich es mir herbeisehne.
Ein bisschen steigt und fällt der Spielspaß mit der Auswahl der Passagiere, die man gerade an Bord hat. Dadurch, dass immer wieder die alten verabschiedet werden und neue hinzukommen, hat man eine interessante Dynamik, aber nicht alle Geschichten machen gleich viel Spaß, nicht alle Passagiere habe ich so gern wie meine ersten drei, und manchmal muss man sich durch eine ziemliche Textwüste klicken, wenn ein Passagier etwas erzählt, ohne richtig zum Punkt zu kommen. Aber selbst in den Momenten, in denen sich das Spiel ein bisschen zäh anfühlt, hat man immer noch genug Gründe, dranzubleiben, weiterzufahren, nur noch eben das nächste Ziel anzusteuern, die nächste Seele einzusammeln, die Materialien für das nächste Häuschen zusammenzusuchen.
Spiritfarer ist ein Spiel mit Langzeitspaß, wobei ich nicht weiß, ob man es mehrmals durchspielen möchte – eine Geschichte, die man schon kennt, fesselt nicht so sehr wie eine neue, und es gibt ja noch viele andere tolle Spiele. Aber es bietet viel schöne Spielzeit für ziemlich kleines Geld, und jetzt im Steam-Sale gibt es von mir eine ganz klare Kaufempfehlung.