Viele finden sie langweilig – ich mag das Konzept von Walking Simulatoren. Manchmal möchte man nicht viel machen als herumlaufen und sich umsehen: Weg vom Spiel als solchen, hin zu einem dreidimensionalen Kunstwerk, das man von allen Seiten bewundern und erleben möchte. Unterlegt man das Ganze auch noch mit einer Erzählung, kann man auf diese Weise ganz bezaubernde Welten erschaffen, Geschichten erzählen, Schicksale fühlbar machen – wenn man es gut macht. Zu schnell ist die Grenze zwischen Philosophie und Geschwafel überschritten, wird Kunst zu Schwulst, und leider ist das bei The Old City – Leviathan passiert. Wunderschöne Screenshots laden zum Erkunden ein, der Klappentext verspricht Tiefgang, und kann man einem Spiel widerstehen, bei dem ein Wal mitten in der Stadt herumliegt und in der Postapokalypse einen Hauch von Surrealismus verspricht?
Leider beheht The Old City den ersten Fehler schon während des Ladebildschirms. Ein Warnhinweis wird eingeblendet: »Achtung! Sie betreten einen zerbrochenen Verstand! Nehmen Sie nichts von dem, was Sie sehen oder hören, für selbstverständlich!«. Wirklich, Sherlock? Danke der Warnung. Tatsächlich hätte ich mir das gerne selbst zusammengereimt. Man erfährt, peu à peu, was unseren Protagonisten, aus dessen Augen wir die Welt in Egoperspektive sehen, um den Verstand gebracht hat, aber das Spiel nimmt mir die Chance auf Erkenntnis. Und das ist symptomatisch für alles, was kommt. Das Spiel, das philosophisch sein will, kommt mit dem gleichen Effekt daher wie der Philosophieunterricht, auf den ich mich in der Oberstufe so sehr gefreut hatte, bis sich herhausstellte, dass an unseren eigenen Gedanken niemand Interesse hatte und es nur darum ging, die Werke toter Philosophen durchzukauen und auswendigzulernen. Der Zufall will es, dass wir damals auch ein ganzes Halbjahr lang Thomas Hobbes‘ Leviathan durchgenommen haben. Ich bin also bestens vorbereitet für dieses Spiel, das viele bezaubernde Postkartenansichten mitbringt und wenig Substanz.
Das Spiel beginnt verhältnismäßig harmlos. Man beginnt in einem unterirdischen Labyrinth aus Kanalisations- und Versorgungsschächten, das ebensogut aus jedem beliebigen Shooter stammen könnte. Ich will Surrealismus, ich will meinen Wal, aber der Grund, dass ich nicht lange darauf warten muss, ist der, dass das Spiel zu kurz ist, die Spielwelt zu klein, und dieser Effekt der Kleinheit sich noch dadurch verstärkt, dass es in Kapitel eingeteilt ist. Anstelle einer offenen Welt, in der ich hin und her irren kann und nachvollziehen, wie man an Einsamkeit, Orientierungslosigkeit und nicht zuletzt verseuchtem Wasser den Verstand verlieren kann, habe ich Level, die sich nach der altbewärten Linke-Hand-Regel in kaum mehr als fünf Minuten komplett erkunden lassen. Man kann abgeschlossene Kapitel zwar beliebig oft neu spielen, aber dann nervt es zunehmend, dass der Held immer an den gleichen Stellen immer die gleichen Sprüche abspielt, die man schon kennt.
Zu entdecken gibt es wenig. Nichts ist versteckt, man läuft, kann ab und zu eine Tür öffnen, ist aber ansonsten in seiner Handlungsfähigkeit komplett eingeschränkt. An einer Stelle stehe ich vor einem Tunnel, sehe am anderen Ende den Schatten einer großen Krabbe vorbeischreiten und würde gerne hineinkriechen, Platz genug ist da, aber ich kann nicht. Ich kann auf der Stelle hüpfen, viellicht fünf Zentimeter hoch, und nur da hingehen, wo man bequem zu Fuß hinkommt. Kriechen, Klettern, Balancieren – nichts davon. Und anstelle bezaubernder surrealistischer Postkartenidylle erwarten mich über weite Teile des Spiels nur die immer gleiche unterirdischen Tunnel, ab und an eine stereotype vollgekackte Toilette, wie ich sie schon in tausend anderen Spielen gesehen habe. Nur ab und an werde ich von einem bisschen Wahnsinn überkommen, haluziniere zerstückelte Leichen oder versteinerte Menschen, und erlebe die wenigen Momente des Spiels, die wirklich zu Denken und Rätsel aufgeben.
Immer, wenn uns The Old City etwas sagen will, geht es kein Risiko ein. Es sagt es uns, doppelt und dreifach. Das führt dazu, dass das Gemurmel unseres Helden, der eigentlich wirklich etwas zu sagen hat, immer und immer wieder im Kreis auf den gleichen Gedanken herumkaut, bis auch der letzte Horst es begriffen hat. Sätze, die den Autoren des Spiels wichtig waren, gibt es dazu auf mindestens fünf Wänden zu lesen, immer und immer wieder: »One giant step for a man, one small step for mankind« – man stelle sich vor, Shakespeares Hamlet würde alle fünf Minuten innehalten, in die Kamera blicken und versonnen sagen »Sein oder Nichtsein, das ist die Frage«. Und so sehr sich das Spiel an der Philosophie orientiert, an Hobbes, Plato und Konsorten, ist es nicht die Aufgabe eines audiovisuellen Mediums wie einem Spiel, den Spieler mit Textwüsten zu bombardieren. Und so leid es mir tut, das sagen zu müssen – ein Shakespeare ist am Autor dieses Spieles nicht verloren gegangen.
An sieben Stellen des Spiels sind Dosen platziert, in denen sich eine Notiz von Solomon, einem früheren Bewohner dieser Welt, versteckt. Aber was Solomon als Notiz bezeichnet und sich hinterher über Menu aufrufen lässt, ist jeweils ein halber Roman, der wirklich keinen Spaß zu lesen macht. Spannender wäre es gewesen, Solomons Worte in kleinerer Dosierung, dafür quer über das Spiel versteckt, zu deponieren. Es würde dem Spiel- und Erkundungstrieb deutlich entgegenkommen, und vielleicht wären diese Texte dann auch lesbar, wenn man nicht über zwanzig Bildschirme scrollen müsste. Die zweite Art, wie das Spiel Informationen vermittelt, ist, Tagebuchseiten an die Wände zu kleben, was noch schwerer zu lesen ist und noch weniger Spaß macht. Man muss sich in möglichst geschicktem Winkel vor die Wand stellen, um alles entziffern zu können und nicht zu viel perspektivische Verzerrung zu haben – und ich fühle mich betrogen um meine Chance, die Geschichte hinter der alten Stadt und dem Leviathan aus dem Spiel selbst zu erfahren. Wenn ich lesen will, nehme ich mir ein Buch.
Wo das Spiel wirklich auf künstlerische Symbolsprache zurückgreift, kommt die mit dem Holzhammer daher. Das fängt an mit dem sich zu oft wiederholenden Motiv des Wals, an die Wand gekritzelte Labyrinthe, und Minotauren, immer wieder Minotauren. Ich fühle mich an Robert Gernhardts Gedicht Deutung eines allegorischen Gemäldes erinnert – »Der eine hält die Geißel fest: Das ist die Pest! Das ist die Pest!« Drei Fraktionen gibt (oder gab) es in dieser postapokalyptischen Stadt, deren Name in den zahlreichen Tagebucheintragungen jeweils unnötigerweise geschwärzt ist: Den Orden, eine Gruppe militanter Atheisten, die Jagd auf alle Un-Ungläubigen machen; die Gilde des Allsehenden Auges, religiose Fanatiker, die sich dadurch auszeichnen, die ganze Welt mit Augen-Grafitis zu versehen, und die Unwissenden, die Agnostiker vom Dienst. Diplomatisch bewegen sich zwischen diesen verfeindeten Parteien, die sich offenbar allesamt gegenseitig umgebracht haben, die sogenannten Minotauren, und einer der letzten davon, vielleicht der letzte, sind wir: Jemand, der damit hadert, keinen Standpunkt zu vertreten, keine Aufgabe zu haben, und der sich herausredet damit, dass sein Nichtstun zumindest nicht so schädlich ist wie die Zerstörungssucht der anderen.
Aber genau diese mangelnde Teilhabe an den Geschehnissen der Welt wird zunehmend zermürbend. Nicht nur gibt es nichts zu tun, man hat auch nicht das Gefühl, jemals etwas getan zu haben, statt immer nur herumzuirren und zu schauen statt zu handeln. Selbst Hamlet wirkt im Vergleich wie ein Macher, und in Gernhardts allegorischen Gemäldes bleiben wir in der Rolle des Fünften, der stumm Wein hereinträgt: »Das wird der Weinreinbringer sein.« Zwischen all diesen Minotauren und Abründen, in die man sich nicht übertragen, sondern buchstäblich hineinstürzten muss, hätte dem Spiel etwas mehr Daedalus Spiel gutgetan und geholfen, die verschiedenen Elemente miteinander zu verbinden. So wirkt alles seltsam unzusammenhängend, bemüht und zusammengewürfelt. Mehr Mut zur Abstraktion, mehr Mut, den Spieler auch mal zu überfordern, hätte The Old City gutgetan. So bleibt am Ende vor allem die Frage offen, wieso in einer Stadt, in der offenbar kein Mensch mehr am Leben ist, noch alle Lampen leuchten und noch nicht mal die Kerzen niederbrennen.
So durchlebe ich die hochphilosophische Geschichte erstaunlich ungerührt. Ich erfreue mich an den Graphiken, wenn ich einmal aus den Schächten raus bin, und wie ein Tourist, der ein Foto nach dem anderen aufnimmt, mache ich einen beeindruckenden Screenshot nach dem anderen, aber es sind hohle Motive, an die weder Erinnerungen noch Emotionen gekoppelt sind. Kein Bild erzählt seine Geschichte. Und noch nicht einmal das Herumlaufen wirkt überzeugend. Ich lausche dem immer gleichbleibenden Geräusch meiner Schritte, selbst dann, als ich mich am Meeresgrund befinde, und selbst dann kann ich nur am Boden herumlaufen – treiben, schweben, das alles wäre zu viel verlangt, und das Ende wird dadurch antiklimaktisch, dass man am Ende aus dem Aufzug steigt, nur um nochmal quer über einen Platz zu laufen, wie ich im Verlauf des Spiels Dutzende überquert habe, eine letzte Tür öffne, und dann zusehe, wie der Bildschirm schwarz wird, schwarz bleibt, und mich dann zurück ins Menu befördert. Das Ende zwei Bilder früher anzusetzen wäre so viel stärker gewesen, aber wie im Gerede der Hauptfigur und den endlosen Textwüsten wusste auch hier niemand, wann man hätte Schluss machen müssen.
Und so kann ich das Spiel denjenigen empfehlen, die ein paar hübsche Szenen sehen wollen und sich an Eyecandy erfreuen. Zum Walking Simulator taugt es wenig wegen der viel zu kleinen Level, und philosophisch werden ein, zwar an sich interessante Fragen zu Tode gewalzt, so dass ich nur sagen kann, dass es wenigstens kein teures Spiel ist und einen so kleinen Preis hat, dass jeder für sich selbst austesten kann, wie viel oder wenig sich aus dem Spiel mitnehmen lässt. Für mich bleibt leider nur der fade Nachgeschmack einer eigentlich interessanten Idee, die völlig zerredet, plattgewalzt und totgetreten wurde. Und auch wenn es nur der Auftakt zu einer noch viel größeren Erzählung hatte sein sollen, hat man vom Entwicklerstudio PostMod Softworks seit der Veröffentlichung 2014 nichts mehr gehört, Webseite und Blog wirken genauso verlassen wie die Stadt, durch die ich eben noch gestapft bin. Durchgespielt, deinstalliert – was bleibt, sind ein paar hübsche Screenshots, Postkarten aus einer Welt, die es versäumt hat, interessant zu sein.