Gut und gern zwanzig Jahre ist es her, da spielten mein Freund und ich Deus Ex, und es veränderte unseren Blick auf die Welt. Wo wir auch hinkamen, sahen wir Lüftungsschächte, Kanaldeckel, all diese unauffälligen Öffnungen, in denen man verschwinden kann, um eine Abkürzung zu nehmen oder nicht gesehen zu werden. Das hat danach kein Spiel mehr geschafft. Selbst wenn mich Dragon Age: Origins emotional noch mehr mitgenommen hat, ich dazu sogar eine (meine erste und bisher einzige) Fanfiction verfasst habe – Deus Ex blieb das Spiel, das uns beide maßgeblich und langfristig beeindruckt hat. Bis jetzt. Jetzt hat uns Cyberpunk 2077 voll im Griff. Und wo wir auch hinkommen, schauen wir als erstes, ob genug Müllcontainer da sind.
Als Cyberpunk 2077 vor gut zwei Jahren erschienen ist, hatte es erst einmal eine schlechte Presse, und es muss ein rechtes Bugfest gewesen sein. Aber das gleiche gilt für No Man’s Sky, und da haben die Devs bewiesen, dass man ein auf den ersten Blick missratenes Spiel retten kann, wenn man sich hinsetzt und noch mal einen Haufen Arbeit reingesteckt, und so war ich, als es im Herbst auf Steam für rund dreißig Euro ins Angebot kam, gerne bereit, auch Cyberpunk eine Chance zu geben – zu sehr reizte mich das Setting, und auch wenn ich sonst eher weniger für ein einzelnes Spiel ausgebe, wollte ich doch endlich einmal die Hardware des neuen Rechners ausreizen. So zog Cyberpunk ein, und was noch mehr ist, ich fing sogar an, es zu spielen. Und jetzt, einen guten Monat später, spiele ich es noch immer. Und habe wenig Lust, damit so schnell wieder aufzuhören.
Als Pen-and-Paper-Rollenspielerin bringe ich ein bisschen Cyberpunk-Erfahrung mit – ich habe einige Zeit lang Shadowrun gespielt und hatte durchaus Spaß daran, auch wenn unsere Runde relativ schnell wieder eingeschlafen ist und es innerhalb der Charaktere zu große Diskrepanzen gab, ob »Wir gehen rein« bedeutet, die Tür einzutreten und der Kassiererin die dicke Wumme vor die Brust zu setzen, oder ihr einfach freundlich ein paar Fragen zu stellen. Es gibt eben viele unterschiedliche Spielstile, nicht nur im Cyberpunk-Setting. Nur ist Shadowrun im gleichen Maße ein Fantasy-Rollenspiel, es gibt Elfen, Trolle und Zwerge, es gibt Magie, anders als bei Cyberpunk 2077, das ein reines dark Science Fiction-Setting anbietet – und wie die heute erhältlichen Shadowrun-Spiele ebenfalls auf einem Pen-and-Paper-Rollenspielsystem basiert. Und das ist sogar noch ein Jahr älter als Shadowrun.
Ursprünglich 1988 als Cyberpunk 2013 veröffentlicht, damals also fünfundzwanzig Jahre in der Zukunft angesiedelt, spielt es in einer Welt, in der in in den Neunzigern die USA zerfallen sind, Megakonzerne gegeneinander Kriege führen und in der ein voll vercyberter Körper viel kostet, ein Menschenleben aber wenig wert ist. Einige Auflagen später – 2020 war der nächste Schritt – ist das RPG, aktuelle Auflage: Cyberpunk Red, jetzt in den 2040ern angesiedelt – das PC-Game dazu legt dann noch mal ein paar Jahrzehnte drauf und geht ins Jahr 2077. Wir sind inzwischen stolze Besitzer des Red-Grundregelwerks, und ich hoffe, es bei nächster Gelegenheit mal spielen zu können – momentan erstreckt sich meine Spielererfahrung aber noch auf das PC-Game, und darauf bezieht sich auch diese Rezension.
Im Jahr 2077 also spielt man V, was wahlweise für Vincent oder Valerie steht (weder auf das eine noch das andere hört V gerne, der volle Name ist engen Angehörigen vorbehalten). Und bei der Charaktererstellung hat man erst einmal die volle Auswahl. Nicht nur hat man drei Charakterhintergründe zur Auswahl und kann V als (erwachsenes) Straßenkind, Konzernangehörige:r oder Nomade spielen, die Wahl zwischen männlichem und weiblichem V wird dadurch aufgebohrt, dass man beliebige Genitalien mit den verschiedenen Körpern kombinieren kann. Aber obacht, das gilt nur für primäre Geschlechtsorgane. Ich kann also mit dem männlichen Körperbau zwar eine Vulva haben und mit femininer Stimme sprechen (beides separat auswählbar), aber wenn ich Brüste haben will, muss ich den femininen Körper nehmen – für den dann wiederum verschiedene Penismodelle zur Verfügung stehen, aber keine Chance, die Brüste wieder loszuwerden.
So richtig durchdacht wirkt das Prinzip nicht, und auch wenn man im Verlauf des Spiels eine umsichtig gestaltete Trans Frau als NSC trifft, wäre hier im Sinne der Transinklusivität viel mehr möglich gewesen – schließlich ist im Jahr 2077 ein Körper nur noch eine beliebig zu gestaltende Leinwand, und auch wenn man auf den ersten Blick V’s sexuelle Identität nach eigener Vorstellung ausarbeiten kann, sind dann die zur Verfügung stehenden romantischen Partner einseitig auf die Kombination »Männlicher Körperbau mit männlicher Stimme« bzw. das weibliche Gegenstück festgelegt. Mehr zu den Romanzen später – die spielen durchaus eine Rolle, aber bis man da angekomnmen ist, hat man schon viele, viele Stunden Spielzeit hinter sich.
Erstmal bekommt V die passenden Haarfarbe, Tattoos, Piercings und Schamhaarfrisur (schändlich klein, die Auswahl möglicher Schamhaarfarben!), Nase und Kinn wollen angepasst werden, und natürlich, dies ist immerhin ein RPG, die Attributspunkte verteilt werden. Da gibt es Body (Körperkraft), Reflexe (Geschicklichkeit), Technik, Intelligenz (Hacking), und Cool (nicht, wie ich erst dachte, Charisma, sondern zuständig für Schleichen, Ninja-Skills, und Kaltblütigkeit). Und dann, nur rund zwei Stunden nach Spielstart (hey, das Aussehen will durchdacht sein!), kann man tatsächlich schon die Einführung des Charakters spielen.
Mein erster V ist männlich, kommt von der Straße, kann leidlich gut mit Pistolen umgehen, besser mit dem Scharfschützengewehr, aber das bekommt man erst später im Spiel, und kämpft bevorzugt mit Katanas. Parallel dazu spielt mein Mann eine weibliche Corpo, die bevorzugt schleicht und ihre Gegner aus dem Weg räumt, indem sie ihnen buchstäbliche die Gehirne hackt. Viele andere Optionen sind möglich, man kann schießen und prügeln, wenn man das möchte, oder nicht, und auch wenn eine pazifististische Lösung oft nicht zur Debatte steht, hat man die Wahl, die Gegner nur zu betäuben, statt sie gleich zu töten (leider fehleranfällig, zu oft habe ich sie dann versehentlich doch erschlagen, wenn ich sie eigentlich verschonen wollte – gut, dass man jederzeit speichern und neu laden kann!).
Aber Vielseitigkeit ist eine der ganz großen Stärken von Cyberpunk 2077. Auch wenn nicht jede Hintergrundgeschichte gleich stark ist (ehrlich, die Corpo-Story ist ziemlich unlogisch!), hat man viele Möglichkeiten, seinen V zu gestalten und zu entwickeln, so dass mein Mann und ich uns mittlerweile Challenges stellen wie »niemals Schusswaffen benutzen« oder »alles mit bloßen Händen niederboxen«, um einen Grund zu haben, noch mehr Zeit mit dem Game zu verbringen. Dabei hat mein Mann das Spiel komplett durchgespielt, wähernd mein erster V kurz vor dem Finale eine Pause eingelegt hat und ich gerade damit beschäftigt bin, V No. 2 zu spielen, um andere Romance-Optionen auszunzutzen und ein paar Fehler, die ich beim ersten Mal gemacht habe, auszubügeln (V No. 1 ist ein bisschen verskillt, weil ich es nicht besser wusste).
Die andere große Stärke des Spiels ist sein Setting. Night City wirkt lebendig, ist toll anzusehen, und reizt die RTX 3070 endlich einmal voll aus, wenn man Raytracing aufdreht und die Sonne sich ihren Weg durch den Smog bahnt, außen in den Badlands der Sandsturm über die Müllhalde weht oder sich der Mond im Pazifik spiegelt – aber Night City ist mehr als nur Leuchtreklamen und Eye Candy, es ist eine gewachsene Stadt mit Charakter, und man merkt, dass da über dreißig Jahre Rollenspielerfahrung eingeflossen sind, sie zu gestalten und mit eigenem Charakter zu füllen. Die Straßen sind voller Menschen (zumindest in der Innenstadt – in den Außenbezirken ist erwartungsgemäß weniger los), die sich beschweren, wenn man sie anrempelt (und man rempelt sie dauernd an, sie bewegen sich quälend langsam und verstopfen die Bürgersteige), und auch wenn sie wahrscheinlich einfach nur hin und her laufen, machen sie doch alle den Eindruck, als würden sie wirklich in dieser Stadt leben.
Leben ist ein gutes Stichwort, denn um nicht mehr und nicht weniger dreht es sich in dem Spiel. V will leben, darum geht es. Und nach über achtzig Stunden Spielzeit geht es V immer noch in erster Linie darum, die eigene Haut zu erhalten. Nicht die Rettung der Welt steht auf dem Spiel, noch nicht mal die der Stadt, nicht der Sturz der Konzerne oder eine Wiedervereinigung der USA – V will leben, und V ist bereit, dafür bis zum Äußersten zu gehen. In einer Welt, in der ein Leben buchstäblich nichts mehr wert ist, ist Vs Beharrlichkeit, nicht sterben zu wollen, bemerkenswert, und ironisch, wie viele andere für V’s Lebenswillen ihrerseits sterben müssen.
Denn V hat ein Problem. Nach einem in die Hose gegangenen Heist hängt sein/ihr Leben von einer je nach Sichtweise symbiotischen oder parasitären Beziehung zu Johnny Silverhand ab – Top-Terrorist, Rockerboy, Night City-Legende und, nicht zu vergessen, seit über fünfzig Jahren tot. Johnny ist eine missmutige Arschgeige, V nicht viel besser drauf, die beiden verdienen einander und tun einem doch irgendwie leid. V’s Kampf um körperliche und geistige Autonomie auf der einen, um das nackte Leben auf der anderen Seite, ist gut geschrieben und berührt und bringt mehr überraschende Wendungen mit sich, als ich erwartet habe (wenn mich ein Plot noch überraschen kann, will das was heißen, und Cyberpunk 2077 hat mich das eine oder andere Mal überraschen können).
Die eigentliche Handlung des Spiels kann man bestimmt in dreißig Stunden oder noch weniger durchspieelen, aber das will nicht viel heißen: Wie jedes gute Rollenspiel steigt und fällt auch Cyberpunk 2077 mit den Nebenmissionen, und von denen gibt es zahlreiche. Die Nebenfiguren sind stark, bringen ihre eigenen Handlungsbögen mit und Farbe in das Spiel – und es gibt wirklich viel mehr zu tun, als nur um romantische Partner zu buhlen. Manche Nebenquesten erstrecken sich über eine ganze Reihe kleinerer Missionen, andere sind schnell erledigt, bleiben aber im Gedächtnis.
Und wem das nicht ausreicht, der hat immer noch eine reiche Auswahl an Gigs, von der Handlung unabhängig zu spielender Aufträge, bei denen man meistens etwas beschaffen, jemanden retten oder aber ausschalten muss, und Polizeieinsätzen (bzw. Einsätze, zu denen es die chronisch überlastete Polizei nicht selbst schafft und bei denen man für einen Akt der Selbstjustiz gut bezahlt wird und Erfahrungspunkte sammeln kann) – alles in allem hat man immer etwas zu tun, und man muss keine Angst haben, dass dem/der todgeweihten V die Zeit davonläuft, der Verfall schreitet mit Plotgeschwindigkeit voran, und die wichtigen NSCs haben kein Problem damit, auch mal ein paar Tage am vereinbarten Treffpunkt herumzustehen, während V für ein paar schnelle Eddies das Katana durch störende Gangmitglieder oder lästige Milizen zieht.
Cyberpunk 2077 ist ein brutales Spiel, das lässt sich nicht ignorieren. Mit dem Scharfschützengewehr schieße ich meinen Gegnern keine Löcher in den Kopf, sondern gleich den ganzen Schädel weg, mit dem Katana hacke ich ihnen Häuper und Gliedmaßen ab oder gleich den ganzen Torso entzwei. Das Spiel ist ab achtzehn freigegeben, und das nicht nur, weil V dauernd »Fuck« sagt und man eine Menge nackter Haut zu sehen bekommt. Es spritzt das Blut, oder bei Leuten, die zu stark vercybert sind, auch mal Hydraulikflüssigkeit, und ich würde es wirklich kein Kind spielen lassen, aber selbst gehe ich stramm auf die fünfzig zu und kann differenzieren, was ich in einem Spiel tue und was in Wirklichkeit, und es kann sehr befreiend sein, nach Herzenslust Gegener niederzumetzeln, wenn der Rest des Tages nicht so toll war – man kann viele, viele Stunden damit verbringen, die Handlung zu ignorieren und sich nur von einem schnellen, befriedigenden Einsatz zum nächsten hangeln.
Vom Schwierigkeitsgrad muss man im Normalmodus nicht zu viel erwarten. Das Spiel ist kein Dark Souls-Klon, sondern wirklich schaffbar, selbst für jemanden wie mich mit meinen eingeschränkten motorischen Fähigkeiten. Im Verlauf wird das Spiel einfacher, die eigene Kampfkraft steigt schneller als die der Gegner, und wer will, kann dann noch mal an der Schwierigkeitsschraube drehen und das Spiel hochdrehen. Mein Mann spielt seinen zweiten und dritten Durchgang auf »sehr schwer«, und da war es, vor allem am Anfang, durchaus haarig – die KI der Gegner steigt, sie verstehen, dass sie Cyberware im Körper haben und setzen die auch durchaus gegen den Spieler ein.
»Save early, save often« ist dann eine wichtige Regel, die man hier aber dankeswerterweise auch befolgen kann – ich hasse ja Spiele, die einen nicht selbst speichern lassen und einen zwingen, lange Passagen zu wiederholen, weil man den nächsten Speicherpunkt noch nicht erreicht hat, aber Cyberpunk bietet eine reiche Auswahl an Autosaves, manuellen Saves und Quicksaves, von denen man bis zu zehn Stück zurückgehen kann, wenn man einen Fehler gemacht hat und etwas weiter ausholen möchte. Nur in den Rückblenden, in denen man Johnnys Erinnerungen aus der Vergangenheit nachspielt, hat man zu oft keine Speichermöglichkeit, und als ich in einer dieser Rückblenden gestorben bin und eine Menge wiederholen musste, hat das Spiel reagiert und mich danach ungefragt in den extraleichten Gottmodus versetzt – das hat in der Tat wenig Spaß gemacht, und eine Videosequenz von halber Länge hätte es ebenso gut getan.
Überhaupt sind die Rückblenden ein Schwachpunkt des Spiels. Sie spielen in den 2020ern, fünfzig Jahre vor Beginn der Handlung, aber es fühlt sich an, als hätte in der Zeit keinerlei Entwicklung stattgefunden. Klar, wir wissen, dass dazwischen eine Menge passiert ist, politisch und so, aber die Technik scheint auf dem gleichen Stand zu sein, die Menschen sprechen den gleichen Slang, hören die gleiche Musik … Da wünscht man sich einen größeren Rückschritt. Das liegt natürlich auch am Cyberpunk-Rollenspielsystem, dessen ursprüngliche Handlung irgendwann in der Vergangenheit angekommen war, aber natürlich in der Zukunft spielen wollte, und das die Uhr zu weit vorgedreht hat, ohne dabei genug zu ändern – aber da das Computerspiel noch mal dreißig Jahre später spielt als die aktuelle Version des Pen-and-Paper-Spiels, hätten sie sich hier mehr visionäre Freiheiten herausnehmen können.
Da man in der Cyberpunk-Welt nicht mehr an Altersschwäche stirbt (es sei denn, man ist eine Schildkröte), treten viele Figuren aus Johnnys Umfeld auch im Jahr 2077 noch quicklebendig auf – und machen nicht den Eindruck, mindestens in ihren Siebzigern, Achtzigern zu sein. Grundsätzlich habe ich kein Problem damit – bis es an die Romanzen-Optionen geht. Da kommt dann eine Figur ins Spiel, mit deren Rolle als potenzieller Liebespartner ich echte Probleme habe. Womit ich jetzt endlich bei den angekündigten Romanzen angekommen bin. Grundsätzlich finde ich es nett, diese Möglichkeit in einem Spiel zu haben, in das ich Dutzende von Stunden investiere, auch wenn es für mich nicht kaufentscheidend ist. Als queerer Mensch bin ich froh, wenn ich dann nicht nur heterosexuelle Optionen habe, aber da muss ich sagen, habe ich noch nie ein Spiel gespielt, bei dem meine Auswahl dahingehend beschränkt gewesen wäre (was daran liegen mag, dass ich außer Dragon Age noch kein anderes Spiel mit Romanzen durchgespielt habe).
Vier potenzielle Partner gibt es in Night City, zwei Männer und zwei Frauen, jeweils einmal am anderen und am eigenen Geschlecht interessiert. V selbst scheint vom Spiel als bisexuell angelegt zu sein: Im Bordell Clouds, das angibt, die Sexpartner direkt auf die Vorlieben des Kunden zuzuteilen, können wir uns nach Abschluss der Vorauswahl zwischen einem Mann und einer Frau entscheiden. Klar, das ist, um die Entscheidung den Spielern zu überlassen – und ich hatte zu dem Zeitpunkt bereits lange beschlossen, dass mein V schwul ist. Tatsächlich hatte ich dann mit Angel im Clouds das emotional tiefgehendste Gespräch des ganzen Spiels – eine Romanze bekommt man mit diesen Figuren aber nicht, sie sind nur kleine Nebenrollen, die nicht wieder auftreten. Die eigentlichen Romanzenpartner sind wiederkehrende Figuren mit eigenen Handlungssträngen, die V helfen und die ihrerseits Vs Hilfe brauchen: ein Geben und Nehmen unter Ebenbürtigen, bei dem man sich vorstellen kann, das daraus starke, lang haltende Partnerschaften entwachsen, vorausgesetzt, V überlebt.
Das heißt, das gilt für drei von den vieren. Ausgerechnet der schwule potenzielle Partner ist anders. Zum einen kommt er erst sehr, sehr spät ins Spiel – ich war über hundert Stunden dran, bis V ihm das erste Mal begegnet ist – zum anderen stammt er aus Johnnys Dunstkreis. Und das bedeutet, dass er irgendwas um die achtzig Jahre alt sein muss, und egal, wie knackig er sich durch OPs gehalten haben mag, er ist achtzig Jahre alt, noch dazu steinreich, und da hat es sich mit »Partnerschaft auf Augenhöhe unter Ebenbürtigen« – da wird V höchstens der Nte Toyboy, und dafür war ich mir eigentlich zu gut, aber ich habe mich auf die Romanzenoption dann doch eingelassen, nicht unter der Illusion, dass die beiden dann gemeinsam in den Sonnenuntergang reiten, sondern mehr als kurzfristige Beziehung zwischen zwei Menschen, die beide gerade einsam sind. Und was bleibt, ist die Tatsache, dass er dann mich splitternackt in Chinatown ausgesetzt hat, etwas, das mir noch mit keinem anderen Partner, ob in echt oder einem Computerspiel, passiert ist.
Überhaupt sind die Romanzen eher als Oneshot angelegt. Man hat ein Date, es kommt zum Sex (oder auch nicht – die Dates hat man nämlich mit allen vier Figuren, ob die nun ein Interesse an V haben oder nicht, und ich konnte sogar versuchen, den heterosexuellen Polizisten zu küssen, wurde aber rüde zurückgewiesen) – und danach kann man dort noch übernachten und hat beim Aufstehen den anderen neben sich im Bett liegen, aber man hat keine anderen Dialogoptionen mit ihnen, als wenn man nicht mit ihnen zusammen wäre. Nur am Schluss des Spieles tauchen sie wohl noch mal auf, aber den Schluss habe ich noch nicht gespielt, weil ich die Entscheidungen, die mir dann abverlangt werde, fürchte und vor mit her schiebe – da habe ich lieber noch mal mit einer anderen V von vorn angefangen.
Nur für die Romanzen lohnt Cyberpunk in meinen Augen nicht. Nur für das Metzeln und Schnetzeln würde ich es auch nicht spielen, da sinkt einfach der Schwierigkeitsgrad zu sehr, je weiter das Spiel voranschreitet, und wenn ich mit einem Katana herumfuchteln will, spiele ich lieber noch mal Shadow Warrior, da sind die Kämpfe vielseitiger. Aber was bleibt, ist, dass die Handlung wirklich fesselnd ist, das Setting sich wirklich lebendig anfühlt, und die Rollenspielelemente wirklich gut umgesetzt sind. Dabei ist das Level-System eines der besten, dem ich bislang in einem Game begegnet bin. Zusätzlich zu den erwähnten Attributen gibt es untergeordnete Skills, die eigenständig Erfahrungspunkte sammeln, indem man sie benutzt, und in denen man Perks genannte Talente freischalten kann mit Punkten, die man sich durch neue Level (Charakterstufen und Skilllevel) erarbeitet.
Dabei können sie nicht höher steigen als das übergeordnete Attribut, so dass man gerade am Anfang sehr balancieren muss, wo man seine Attributspunkte – einen pro Levelanstieg – hinsteckt, um nicht kostbare Erfahrungspunkte in seiner Hauptfähigkeit zu vergeuden. Schließlich hat jede der Fähigkeiten einen ultimativen Perk, für den man den Skill (und nicht nur das Attribut) mit zwanzig Leveln gemaxt haben muss. Und das ist nicht immer einfach. Mein Mann mit seiner Hacker-V hatte kein Problem, Hacking zu maxen, so oft kann man diese Fähigkeit im Verlauf des Spiels einsetzen. Mit Kampfskills verhält es sich anders, vor allem, wenn man sowohl Nah- als auch Fernkampfwaffen benutzt, die sich gegenseitig die Erfahrungspunkte abgraben. So ist mein erster V mit Katanas nur bei achtzehn ausgekmmen, weil zu viele Erfahrungspunkte in Gewehre geflossen sind. Und ob es überhaupt möglich ist, Kampfskills zu maxen, ohne auch noch wie ein Cyberzombie unbeteiligte Passanten abzuschlachten, haben wir noch nicht herausgefunden – selbst meine zweite V, die wirklich ausschließlich mit Katanas kämpft und keiner bewaffneten Konfrontation aus dem Weg geht, wird ihren Ultimate Perk wahrscheinlich eher nicht freischalten.
Aber nicht nur im Kampf sammelt man Erfahrungspunkte. Wer nach dem Kampf brav die Leichen seiner Gegner entsorgt – dafür bieten sich Müllcontainer, Kühltruhen und die Kofferräume von Schrottwagen an – steigert so seinen Ninjutsu-Skill, und weil der wirklich nützlich ist, zum Beispiel wo es um kritische Treffer geht, tut man gut darin, das auch auszunutzen. Nur, dass jedes dieser Behältnisse nur eine begrenzte Anzahl an Körpern aufnehmen kann und man irgendwie nie genug Container findet. Das schult das Auge – so sehr, dass wir jetzt, wo wir auch hinkommen, überall als erstes nach grünen Müllcontainern mit gelben Deckeln suchen. Aber auch Feuerleitern, um einen eher unauffälligen Eingang zu finden, nehmen wir gern. Und andere Dinge, mit denen man auf ein Dach steigen kann. Und natürlich Überwachungskameras. So viele Sachen, die sich auch in unserer Welt entdecken lassen!
Das einzige im Spiel, das mir wirklich keinen Spaß macht, ist das Autofahren. Während sich V sonst mit Tastatur und Maus steuert, muss man das Autofahren komplett über WASD- oder Pfeiltasten machen, und darin bin ich einfach schlecht. Dauernd fahre ich irgendwo gegen, kollidiere mit dem Gegenverkehr, fahre Ampeln um oder erwische Fußgänger, nur um dann von der Polizei gejagt zu werden – und dazu kommt, dass die anderen Autos in Night City ohne Sinn, Verstand und Intelligenz unterwegs sind. Die bleiben an grünen Ampeln stehen und reagieren nicht auf Hupen, nur um einem dann bei Rot die Vorfahrt zu nehmen … Ich habe es versucht, das Autofahren, hatte schnell genug davon, und habe beschlossen, dass V ein Fußgänger ist. in der Stadt laufe ich also überall hin, nutze den ÖPNV, wo ich die Haltestellen freigechaltet habe (also da, wo ich schon einmal war), und in den Badlands, wo die Straßen gerade sind und es wenig Verkehr gibt, nehme ich tatsächlich das Motorrad.
Meistens komme ich damit auch durch. Nur bei manchen optionalen Nebenquesten – niemals während der Hauptmission – kommt man um Autofahren nicht herum. Ich, die ich jede Quest mitnehmen wollte, fahre dann wie auf rohen Eiern im Schritttempo durch Night City, und wenn es schnell gehen muss, bei Verfolgungsjagden oder Autorennen, hole ich meinen Mann an den Computer, damit der die Fahrt für mich übernimmt. Nicht, dass es für ihn einfach ist – die Kamera steuert man immer noch mit der Maus, und meine ist linkshändig eingestellt, aber da haben wir ein System entwickelt, bei dem ich die Kamera steuere und mein Mann das Auto, und das funktioniert eigentlich ganz gut. Nur die Option, eine ganze Kollektion von Autos zu sammeln, hat mich dann weniger interessiert – ich nutze sie de fakto nicht. Trotzdem bin ich auch mit einem guten Dutzend Wagen und Motorrädern, die es als Questbelohnungen oder Plotelement gab, davongekommen.
Jetzt habe ich schon so viel über Cyberpunk 2077 geschrieben und dabei so vieles überhaupt noch nicht erwähnt, wie die Möglichkeit, die perfekten Outfits für V zusammenzustellen und per Mausklick zu wechseln. Oder die surrealistische Freude, einen Braindance zu analysieren. Oder wie exzellent das Voice Acting, zumindest in der englischen Fassung, ist – und dass ausgerechnet Keanu Reeves in der Rolle des Johnny Silverhand als ein bisschen eindimensional abstinkt. Aber ich denke, es sollte jetzt auch so klar sein, dass ich dieses Spiel enthusiastisch weiterempfehle. An Leute, die Zeit haben, viele Stunden hinein zu versenken. Und die mit dem Setting etwas anfangen können. Und für die es auch mal, aber eben nicht immer, etwas blutrünstig zugehen kann. Und die wissen, wo der nächste Müllcontainer steht – grün, mit einem gelben Deckel.