Im diejährigen Steam-Wintersale habe ich diverse neue Spiele (viel zu viele, natürlich, wie üblich) zum kleinen Preis erbeutet, darunter nicht nur AAA-Blockbuster, sondern auch kleine Indie-Schmankerln wie Tormentum – Dark Sorrow, das es gegenwärtig für 4,79 Euros gibt. Ich liebe solche Spiele mit abgefahrenem, surrealistischem Artwork, auch wenn Kunst natürlich immer Geschmacksache ist, und bin nicht enttäuscht worden. Mit Graphiken, deren Stil man mit »Hieronymus Bosch meets H.R. Giger« umschreiben kann, fällt dieses Spiel klar in die Kategorie »Eye Candy«: Das Auge spielt mit, und für Spieler, die mehr Wert auf die Optik als auf knifflige Rätsel und stundenlangen Spielspaß legen, gibt es eine klare Kaufempfehlung. Auch die Handlung von Tormentum braucht sich nicht zu verstecken – aber das Spiel ist wirklich sehr, sehr, sehr kurz. Dass ich am Ende sechs Stunden Spielzeit in meinem Steam-Konto verzeichnet hatte, liegt nur daran, dass ich es insgesamt dreimal durchgespielt habe, um alle Errungenschaften freizuschalten, und wenn man es einmal durchschaut hat, dauert ein Durchgang auch nur noch eine knappe Stunde,
Nicht nur vom Titel her erinnert Tormentum an das gute alte Planscape: Torment – auch in Sachen Inhalt haben die polnischen Entwickler vom OhNoo Studio sich deutlich an den Vorgänger angelehnt. Man bewegt sich als gesichts- wie geschichtsloser Held mit Totalamnesie durch eine surrealisistische, böse, verdrehte Welt und trifft Entscheidungen, von denen der Fort- und Ausgang der Geschichte abhängt. Dabei wird dem Spieler nicht einfach gemacht, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden, kaum jemand ist, was oder wie er zu sein vorgibt, und manche vermeintlich gute Wahl kommt hinterher zurück und beißt einen buchstäblich in den Hintern. Seit Dragon Age: Origins habe ich vor keinen derart moralisch anspruchsvollen Entscheidungen mehr gestanden. Dass ich nicht unbedignt meinen Mitgefangenen in die spitzen Stacheln stürzen lasse, mag ja noch naheliegen, aber lasse ich den Folterknecht am Leben? Und was tue ich, wenn sich befreiter Mitgefangener später als rechte Schweinebacke rausstellt?
Tatsächlich gibt es, aus Sicht des Spiels, für jede Entscheidung eine gute und eine böse Lösung. Gnade ist wichtiger als Recht, Empathie wiegt schwerer als Rache, und nur, wer immer den rechten Weg beschreitet, darf am Ende ins Licht gehen. Will man jedes Steam-Achievement erreichen, muss man Tormentum mindestens zweimal durchspielen; ich habe drei Ansätze gebraucht, weil ich mich beim ersten Mal einmal verklickt und einen Menschen getötet habe, den ich eigentlich retten wollte, und darum das Spiel nicht als gut beenden konnte. Ausgerechnet die letzte Entscheidung, bei der man selbst einschätzen soll, ob man gut oder böse ist, erweist sich jedoch als völlig irrelevant, was schade ist, und die dramatische Auflösung am Schluss, die Enthüllung des Gesichts unseres Kapuzenträgers, war so lasch und vorhersehbar, dass das Spiel ausgerechnet auf den letzten Metern schwächelt: Auch, dass es beim Ende nur noch Schwarz oder Weiß und keine Grauschattierungen gibt, ist schade, da hätte ich mir mehr Variation gewünscht.
Was das Spiel so bemerkenswert macht, sind die handgemalten Szenen des polnischen Künstlers Piotr Ruszkowski, der zusammen mit zwei Freunden das gesamte Entwicklerteam darstellt und sich in Tormentum wirklich austoben durfte: Neben den 78 Szenenbildern des Spiels kann man noch dutzende weitere seiner Bilder bewundern, die als Gemälde an der Wand hängen und es um so schader machen, dass das Spiel so kurz ist, hätte man doch gern die Chance gehabt, auch in diesen Szenerien herumzulaufen und weitere Abenteuer zu erleben, Entscheidungen zu treffen und Rätsel zu lösen. Wobei die Rätsel oft nur Alibicharakter haben: Ich mag meine Puzzle knifflig, hier wird es dem Spieler allzu einfach gemacht, und immer dann, wenn doch mehr als nur ein bisschen Hirnschmalz gefordert wäre, findet man irgendwo eine Zeichnung, aus der die Lösung ersichtlich ist: Dann hätte man die Puzzle auch gleich weglassen können. Keine von ihnen ist innovativ, alle kennt man schon aus zig anderen Spielen, und wer sich nicht nur von den Graphiken zum Kauf überzeugen lässt und das Spiel nur wegen der Dreh-, Drück- und Schieberätsel kauft, wird am Ende enttäuscht sein.
Auch eine andere Designentscheidung stößt sauer auf: So springt das Seitenverhältnis im Spiel immer wieder zwischen 4:3 und Breitbild hin und her. Detailansichten sind wunderschön bildschirmfüllend, die eigentlichen Szenen, durch die man sich bewegt, haben unschöne schwarze Balken links und rechts, wo sich dann zwar das Notizbuch und der Rucksack fürs Inventar befindet, aber nicht das, was man eigentlich sehen will: das tolle Artwork. Schlimmer noch, die Szenen tun so, als hätten sie nicht ganz ins Bild gepasst, und ruckeln links und rechts hin und her, wenn man die Maus bewegt: Sowas verzeihe ich, wenn ich ein eigentlich für 16:9 konzipiertes Spiel auf meinem alten 4:3-Monitor spiele, aber nicht, wenn bewusst darauf verzichtet wurde, die ganze Breite zu nutzen. Auch, wenn das an einer Stelle des Spiels relevant wird, weil man durch Hin- und Herschieben der Szenerie verborgene Symbole sichtbar machen kann, die man als Code braucht, um einen Hebel zu aktivieren, hätte ich eine bessere Ausnutzung des Bildschirms klar bevorzugt.
Gemessen an der Spielzeit, ist der aktuelle Preis von unter fünf Euro sicherlich angemessen. Auch, wenn ich Tormentum sehr gern gespielt habe und das Artwork wirklich mag, wäre mir der volle Preis von 11,99 Euro deutlich zu hoch gewesen. Da investiere ich lieber auf die Dauer in einen Bildband mit Ruszkowskis Werken. Lobend muss ich aber auf jeden Fall noch die Lokalisierung erwähnen (ich habe das Spiel auf Englisch gespielt, eine deutsche Sprachfassung ist auch vorhanden, zu deren Qualität kann ich jedoch nichts sagen): Anders als beim ebenfalls aus Polen stammenden Spiel 1Heart, das ich im Januar in diesem Blog vorgestellt habe und einen ähnlichen Graphikstil hat, ist die Übersetzung wirklich gelungen und scheint von einem Muttersprachler zu stammen statt von einem Slaven, dem wesentliche grammatikalische Grundlagen der englischen Sprache abzugehen scheinen. Die Dialoge und Kommentare des Helden lesen sich flüssig und angenehm und tragen ihren Teil dazu bei, die beklemmende Stimmung einer zerrissenen, korrumpierten Welt zu vermitteln. Auch mit kleinem Budget – eine Indigogo-Kampagne hat den Entwicklern rund elfeinhalbtausend Dollar eingebracht – ist hier ein lohnendes kleines Schmuckstück entstanden. Auf weitere Spiele vom OhNoo Studio darf man gespannt sein.